Ansprache Barbarafeier Bergheim 06.12.2017 und Ellen 08.12.2017

 

Liebe RDB-Kameraden und Kameradinnen, liebe Bergleute, liebe Festgemeinde,

 

im vergangenen Sommer fand wie immer der große Abschlussgottesdienst einer der beiden weiterführenden Schulen in Elsdorf statt. Die Schüler und Schülerinnen hatten ihren Regelschulabschluss geschafft und trafen sich zu einer großen Feier, die mit einem ökumenischen Gottesdienst begann. In der gewohnten Weise gab es ein musikalisches Vorspiel auf der Orgel, es folgte die Begrüßung mit einer Einführung ins Thema und die Ansage des ersten Liedes. Mir war klar, dass es bei diesem schon bei der bloßen Erwähnung des Titels einige Unruhe geben würde. Nun war der Entwurf für diesen Gottesdienst von der Schule gestaltet und entsprechend die Lieder ausgesucht worden. Ich hatte gegen dieses Lied keine Einwände, ganz gewiss nicht, aber wir würden schon einen Moment brauchen, bis wir wieder etwas Ruhe hätten und weitermachen könnten.

 

Das Lied war nämlich eine Umdichtung des bekannten und oft pariflierten Liedes „Danke für diesen guten Morgen“ und lautete nun in seiner neuen Fassung „Danke für unsere schöne Schulzeit“. Man braucht wirklich kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, wie die Menschen auf diesen Liedtitel reagiert haben. Um ehrlich zu sein, wenn ich einem Hund eine Wurst vor die Nase halte, weiß ich auch, dass er nach diesem Leckerbissen schnappen wird. Es war abzusehen, dass es bei allen Beteiligten erstmal Gelächter geben würde. Und tatsächlich es kicherte und gluckste, es grinste und griente, es lachte und lächelte. Und ganz erwartungsgemäß dauerte es eine kleine Weile, bis sich alle wieder beruhigt hatten.

 

Für mich war das ein idealer Einstieg, um einmal ganz grundsätzlich zu werden und ein paar Überlegungen zum Bildungsverständnis anzustellen. Unabhängig von aller subjektiven Erfahrung, der eine oder die andere hat mal mehr oder weniger positive Erinnerung an die eigene Schulzeit, offenbart sich hier – gelinde gesagt – eine kritische Distanz zu Bildung in einem umfassenden Sinne.

 

Diese tief empfundene Unlust gegenüber dem Lernen und Wissenserwerb, dem Denken und Nachdenken war schon mit Händen zu greifen. Es war deshalb eine gute Gelegenheit,einmal darüber nachzudenken, warum es vielleicht keine so ganz schlechte Idee ist,ein Lied zu singen, mit dem man für die eigene Schulzeit Danke sagt. Danke, das es überhaupt Schulen gibt. Danke, dass ausreichend Zeit für den Schulbesuch zur Verfügung steht. Danke, dass ich lernen darf.

 

Würde man diese Leute, die sich über den Dank für die schöne Sculzeit köstlich amüsiert haben, nach der Bedeutung von Bildung fragen, dann würde man erstaunt zur Kenntnisnehmen, dass Bildung einen für diese Menschen einen hohen Stellenwert hat. Ich vermute aber, und da bin ich mir ziemlich sicher, dass sie unter Bildung den Ewerb von Schlüsselqualifikationen und Fachkompetenzen verstehen.

 

Fachkompetenz ist das notwendige Wissen, um eine bestimmte berufliche Tätigkeit ausüben zu können. Schlüsselqualifikationen sind verschiedene Eigenschaften, um sichzügig verändernden Bedingungen des Ewerbslebens anpassen zu können. Das sind ganz sicher wichtige Voraussetzungen, um erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen.

 

Aber das meine ich nicht mit Bildung. Was wir gerade besprochen haben, sind für mich Voraussetzungen, notwendige, und damit unverzichtbare Voraussetzungen für ein gelingendes Erwerbsleben. So wichtig ich diese Dinge finde, scheinen sie mir eine gewaltige Engführung des Bildungsbegriffs zu sein. Was mich an der kleinen Begebenheit an der Entlassfeier dieser weiterführenden Schule in Elsdorf gestört hat, war neben der Engführung des Bildungsbegriffs ganz sicher auch die in dem Gelächter zum Ausdruck gebrachte grundsätzliche Distanz gegenüber Bildung.

 

Wissen Sie, viele von Ihnen haben sich ja immer wieder gefragt, warum ich mich anders als manche meiner Kollegen landauf landab klar und deutlich für die mittelfristige Verstromung von Braunkohle ausspreche. Da habe ich bereits die wunderlichsten Vermutungen gehört. Ob man mir morgens irgendetwas in den Kaffee schütten würde. Oder ob ich wie ein allseits bekannter Hinkelsteinlieferant aus der Bretagne als Kind in den Zaubertrank gefallen sei. Ich kann Ihnen versichern, nichts von dem trifft zu. Aber der Schlüssel liegt tatsächlich in meiner Kindheit und Jugend.

 

Wie andere Familien unternahmen meine Eltern an Wochenenden Tagesausflüge.Diese Tagesausflüge hatten aber ganz oft ein Thema. Man fuhr nicht irgendwohin, um am Ende des Tages zusagen, wir sind halt irgendwo hingefahren, sonderm um etwas von der Welt gesehen zu haben, von der Welt, in der wir hier im Rheinland leben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir eine Radtour gemacht haben, die durch einen Wald führte, von dem mein Vater behauptete, dass dieser Wald bald nicht mehr existieren würde, weil er in einem riesengroßen Loch verschwinden würde. Natürlich war mir klar, dass der Wald nicht in ein Loch fällt, sondern dass man ihn vorher abholzt und dann das besagte Loch gräbt. Man würde Braunkohle aus der Erde holen, die man verbrennt, um daraus Strom zu gewinnen. Strom, den wir jeden Tag verbrauchen.

 

Am Wochenende drauf ging’s nach Frechen, wo wie uns von einem Aussichtspunkt bei Türnich den Tagebau angeschaut haben. So ein Loch, erklärte mein Vater, entstünde demnächst auch da, wo wir letzte Woche die Radtour gemacht hätten. Aber das alles müsse sein, um Strom zu gewinnen, den wir jeden Tag ohne nachzudenken verbrauchen würden. Der dritte Ausflug in dieser Serie führte übrigens in die rekultivierten Teile der Ville, wo wir um die Wald- und Seenlandschaft bei Brühl eine Wanderung machten. So sieht das aus, wenn die Braunkohle nicht mehr da ist und die Bagger verschwunden sind.

 

Sie können sich vorstellen, was hier abgelaufen ist. Zwanglos, ohne Druck wie beiläufig, fast schon nebenbei, habe ich als Kind einen Teil des Rheinlandes kennengelernt, erste Zusammenhänge von der Stromerzeugung und des dafür benötigten Aufwandes begriffen, eine Ahnung von den Größendimensionen industrieller Produktionsweise bekommen und eine Hochachtung vor den Menschen entwickelt, die solche gewaltigen Aufgaben wie den Bergbau und die Stromversorgung stemmen.

 

Später hat mein Vater mich dann als Jugendlicher mehrmals im Jahr für einen ganzen Tag aus der Schule genommen, um an sogenannten Ruhr-Touren teilzunehmen. Die Presse- und Öffentlichkeitsdabteilung des damaligen Kommunalverbandes Ruhrgebiet, heute Regionalverband Ruhrgebiet, veranstaltete und der Regie

ihres Leiters Armin Schilling, den ich hier ausdrücklich erwähnen möchte, Besichtigungsfahrten durch Industrieanlagen des Ruhrgebietes. Und das waren keine historischen Fahrten, wo alte Zechen besichtigt wurden, sondern hochmoderne Betriebe, die unter Hochdruck produzierten. Ich kann mich noch an einen Stahlabstich bei Hoesch in Dortmund oder an Fernsehproduktion bei Loewe in Bochum erinnern. Ergebnis dieser Ausflüge war die Einsicht in die Notwendigkeit der industriellen

Produktionsweise, ohne die damals sechzig Millionen Menschen nicht versorgt werden können. Ein guter Geschichtsunterricht, der sein Hauptaugenmerk auf die Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert gerichtet hatte, tat sein Übriges, um die Zusammmenhänge zum Verständnis dieser Dinge herzustellen.

 

Ich bin meinem Vater, aber auch meinem Geschichtslehrer und dem Leiter der Presseabteilung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet hoch dankbar für das, was sie mir vor 35 Jahren geboten haben. Ziel ihrer Bemühungen war es, Einsicht in die Notwendigkeit von Vorgängen, wie beispielsweise der industriellen Produktionsweise, zu vermitteln. Und das ist etwas grundlegend anderes als nur der Erwerb von Kompetenzen, die für die unmittelbare Berufsausübung zwingend gebraucht werden.

 

Dass ich also ein positives Verhältnis zur industriellen Produktionsweise und zum Bergbau entwickelt habe, ist bei Weitem nicht mein eigenes Verdienst, sondern verdanke ich dem glücklichen Zusammentreffen der drei Faktoren, die in einem umfassenden Sinne Bildung ermöglichen: Elterhaus, Schule und sogenannte außerschulische Lernorte. Jeder dieser Faktoren hat seinen Beitrag geleistet, um  eine umfassende Sicht auf Bergbau und Industrie zu ermöglichen und Einsicht in dieNotwendigkeit dieser Vorgänge zu vermitteln.

 

Bildung beschränkt sich für mich deshalb keineswegs nur auf den Erwerb von Kompetenzen oder Schlüsselqualifikationen, die benötigt werden, um bestimmte berufliche Tätigkeiten bewältigen zu können. Bildung in meinem Verständnis soll die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Vorgängen offenlegen und herstellen. Es

genügt eben nicht, nur zu wissen, wie ich meine Arbeit als Elektriker, als Schlosser, als Markscheider, als Bergingenieur korrekt und gut zu erledigen habe. Das ist die unabdingbare und notwendige Voraussetzung, um überhaupt irgendetwas zu erreichen. Ich muss gleichermaßen wissen, warum ich meinen Beruf in diesem Unternehmen und an keiner anderen Stelle ausübe.

 

Dann sind wir sofort bei den großen Zusammenhängen der Stromerzeugung in unserem Land. Dann sind wir bei den technischen und physikalischen Grundlagen. Und dann sind wir bei der Frage, wie die Dinge in dieser Welt funktionieren und welche Wechselwirkung die Einzelteile im Zusammenspiel mit dem großen Ganzen entfalten.

 

Die Aufgabe der Schule besteht unter diesen Bedingungen darin, den Schüler und Schülerinnen zu einer Gesamtschau zu verhelfen und eben nicht nur Faktenwissen zu vermitteln, dessen Einzelteile unverbunden wie erratische Blöcke im Raum stehen und scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Nur wer gelernt hat, die Zusammenhänge in der Stromgewinnung, der Stromverteilung und im Stromverbrauch zu durchschauen, lässt sich nicht von irgendwelchen Parolen für dumm verkaufen und hinters Licht führen. So gesehen hat der Weisheitslehrer aus der Bibel,dessen Überlegungen zur Bildung wir vorhin gehört haben, völlig Recht, wenn ersagt: „Der Gebildete hat Augen im Kopf, der Ungebildete tappt im Dunkeln.“

 

Wenn ich mir die aktuelle Debatte um die Verstromung der Braunkohle anschaue, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ganz viel nur über Befindlichkeiten aber nicht über Einsichten in die Zusammenhänge der Stromerzeugung diskutiert wird. Gute Bildung zeichnet sich nach meinem Verständnis dadurch aus, dass sie auf Grundlage naturwissenschaftlich-technischer Erkenntnisse die Gesetzmäßigkeiten der Stromerzeugung zu verstehen hilft und über entsprechende politische Rahmenbedingungen nachdenkt, unter denen eine kontinuierliche und zuverlässige Energieversorgung gewährleistet werden kann.

 

Dass wir in unserer Gesellschaft im Moment eine so ausgesprochen ungute, vor allem gefühlsbetonte und wenig sachorientierte Debatte führen, hat meines Erachtens seine Ursache in mangelnder Bildung, und das heißt immer in fehlender Einsicht in Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten.

 

Ich plädiere deshalb für ein ganz massives Umdenken im Bildungsbereich. Ich wünsche mir, dass sich unser Verhältnis zur Bildung grundsätzlich ändert. Schon die innere Einstellung vieler Menschen, in Bildung bestenfalls ein notwendiges Übel und eine lästige Pflicht zu sehen, verhindert die Verbreitung wichtiger Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt beispielsweise der Stromerzeugung. Leider wird zu oft übersehen, dass erst diese Einsichten die Menschen zu mündigen Bürgern machen, die sich selbst ein Bild über einen Sachverhalt machen können und nicht Spielball von irgendwelchen unbegründeten Meinungen und bloßen Gefühlen sind. Es müsste eigentlich im Interesse der Menschen liegen, sich aus der eigenen Unmündigkeit zu befreien.

 

Ich wünsche mir weiterhin, dass die Schulen die Voraussetzungen für Mündigkeiten schaffen, indem sie die reine Beschränkung auf Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen aufgeben und ihre Schüler und Schülerinnen vermehrt auf die Zusammenhänge aufmerksam machen.

 

Die Folgen mangelhafter Bildung nach dem hier entwickelten Modell erleben wir seit Jahren Tag für Tag in der Auseinandersetzung um die sogenannte Energiewende. Wenn ich auswärtigen Besuchern das rheinische Braunkohlenrevier zeige, bin ich immer wieder erstaunt, wie wenig Faktenwissen und Einsicht in die Zusammenhänge der Stromerzeugung vorhanden sind, aber mit welcher emotionalen Leidenschaft und Vehemenz diese Menschen über etwas sprechen, von dem sie schlichtweg keine Ahnung haben.

 

Ich bin mir ganz sicher, dass die Debatte um die Energiewende ganz anders verlaufen würde, wenn sehr viel mehr Menschen sich einmal wirklich mit den Fragen der Stromerzeugung auseinandersetzen würden. Leider gilt wohl das alte deutsche Sprichwort, und damit wären wir wieder bei der Bildung: „Was Hänschen nicht lernt Hans nimmermehr.“

 

So sehr ich von diesem Konzept der Mündigkeit durch Bildung überzeugt bin, weiß ich aber auch um seine Schwächen. Dann, nämlich, wenn in der Politik bewusst aus politischen Erwägungen heraus, das heißt aus taktischen Gründen der Machtverteilung, gegen jedes Fachwissen und gegen jede Einsicht gehandelt wird. Die gescheiterten Verhandlungen um eine Regierungsbildung in Berlin haben gezeigt, wie das aussieht. Dann allerdings hilft auch die beste Bildung nichts mehr. Und auch ein Physikstudium bewahrt nicht vor grundfalschen Entscheidungen.

 

Wohin das führt, können wir am Leben der heiligen Barbara erkennen. Sie selber hat sich in einer Zeit, als der Übertritt zum christlichen Glauben eher die Ausnahme war, gründlich mit ihrer neuen Religion beschäftigt, bevor sie den endgültigenSchritt wagte, und sich taufen ließ. Mit einem der bekanntesten Theologen führte sie eine umfassende Korrespondenz. Durch jahrelange Gespräche mit einem Geistlichen vor Ort und der eigenen intensiven Lektüre während ihrer Gefangenschaft im Turm festigte sich ihre Überzeugung, sodass sie ihren Entschluss zur Konversion nach reiflicher Überlegung und gründlicher Auseinandersetzung gefasst hat. Barbara wusste genau, was sie tat.

 

Im Gegensatz dazu hat ihr Vater ausschließlich aus dem Affekt heraus gehandelt. Und ich will ihm das nicht als mildernde Umstände anrechnen. Denn auch er hätte sehr wohl die Möglichkeiten gehabt, sich über die neue Religion kundig zu machen. Ich verlange keineswegs, dass er die Entscheidung seiner Tochter, den christlichen Glauben anzunehmen, befürwortet oder sogar zu seiner eigenen macht. Aber ich verlange aber sehr wohl, dass er sich soweit informiert, um zu wissen, dass für das Wohlergehen von Staat und Gesellschaft durch die neue Religion keine Gefahr droht, wie er befürchtet hatte. Seine gefühlsbetonte Ablehnung des christlichen Glaubens seiner Tochter endet in einer furchtbaren Gewaltorgie, an deren Ende beide ihr Leben verloren haben. Er legt Hand an seine Tochter und wird nur wenig später durch einen Blitzschlag selbst gerichtet.

 

Das kommt uns, glaube ich, sehr bekannt vor. Anders kann ich mir die Gewalt im Hambacher Forst gegen Mitarbeiter des Tagebau betreibenden Unternehmens nicht erklären. Ich hoffe, dass es nicht zu spät ist und sich Vernunft und Einsicht doch noch durchsetzen werden.

 

Amen.

 

Pfarrer Martin Trautner, 06.12.2017